Die "Harmoniae sacrae pro festis praecipuis totius anni", geistliche Gesänge für die wichtigsten Feste des Kirchenjahres, markieren einen Meilenstein in der künstlerischen Entwicklung Johann Stadens. Im Jahr 1581 in Nürnberg geboren und wohl von Kindheit auf mit der Kultur und dem kirchlichen Leben seiner Heimatstadt auf das engste verbunden, kehrte er 1616 in die Reichsstadt zurück, nachdem er zuvor knapp 15 Jahre an anderen Orten tätig war. Viel ist über seine ersten 30 Lebensjahre nicht bekannt. Sicher ist, dass er 1604 geheiratet hat und zu diesem Zeitpunkt fürstlicher Organist am Hof des Markgrafen Christian zu Brandenburg- Bayreuth war. Man darf auch davon ausgehen, dass er in der Zeit von 1612 bis 1614 Organist am Hof des sächsischen Kurfürsten war. Von 1616 an bis zu seinem Tod im Jahre 1634 wirkte er in Nürnberg an verschiedenen Kirchen. Ab 1618 war er Organist an St. Sebald und damit als städtischer Musikdirektor verantwortlich für das gesamte Musikleben der Stadt.
Das Erscheinen der "Harmoniae sacrae" ("... recens in lucem editae") im Mai 1616 fällt also zeitlich zusammen mit der Rückkehr Stadens in seine Geburtsstadt. Die Tatsache, dass er das Werk dem Rat der Stadt gewidmet hat, ist wohl auch ein Hinweis darauf, dass er ein Werk schaffen wollte, das den aktuellen liturgischen wie kulturellen Bedürfnissen der städtischen Bürgerschaft entsprach. Man schätzte in Nürnberg offenbar nach wie vor geistliche Musik, die klassische Bibeltexte oder vertraute Texte der traditionellen Liturgie in lateinischer Sprache zum Klingen brachte. Die liturgischen Traditionen des Reformationsjahrhunderts waren in der lutherischen Stadt Nürnberg offenbar noch durchaus lebendig. Die "Harmoniae sacrae" bestehen zunächst aus 21 Textvertonungen für 4 bis 8 Stimmen. Dazu kommen 6 Werke in einem "Appendix", mit denen Staden sicher nicht zufällig der sich von Italien aus verbreitenden Generalbassidee seine Referenz erweist.
Das Werk ist ein Beleg dafür, wie am Anfang des 17. Jahrhunderts ein epochaler Umbruch hin zum "Generalbasszeitalter" stattfand, dem Johann Staden den Weg bereiten wollte, ohne die Tradition zu vernachlässigen. So sind die Vertonungen Nr. 1 bis Nr. 21 überwiegend noch im alten Stil gehalten, im "Appendix" (Nr. 22 bis 27) wagt Staden dagegen den Schritt hin zum geistlichen Konzert und zur Technik des Basso continuo. Dass diese Entwicklung in Nürnberg bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt aufgegriffen wurde, ist nicht verwunderlich, denn man wusste hier dank der guten wirtschaftlichen und künstlerischen Verbindungen stets, was in Italien bzw. in Venedig "gespielt" wurde.
Die Edition der "Harmoniae sacrae" stellt den Herausgeber vor mancherlei Probleme. Zunächst erschien es zweckmäßig, bei den einzelnen Motetten des Hauptteils, jeweils die Werke mit der gleichen Stimmenzahl in einem Heft zusammenzuführen (Übersicht siehe letzte Seite!). Die Annahme, dass die verschiedenen Stimmen nach der Bezeichnung der Stimmbücher („Cantus“, „Altus“, „Tenor“, „Basis“, „Quinta vox“, „Sexta vox“, „Septima vox“ und „Octava vox“) den entsprechenden Stimmlagen zugeordnet werden können, trifft jedoch nur eingeschränkt zu. Vielmehr bewegen sie sich unabhängig von der Bezeichnung des Stimmbuches oft in anderen Stimmlagen und innerhalb dieses Rahmens z.T. auch noch in extremen Höhen oder Tiefen. Insbesondere bei den Mittelstimmen sind daher eindeutige Zuordnungen kaum möglich. Diesem Gestus entspricht es, dass die verschiedenen Stimmen auch in sehr unterschiedlichen Schlüsseln notiert sind (G2, C1, C2, C3, C4, F3, F4, F5).
Stadens "Harmoniae sacrae" sind auf diese Weise sehr vielgestaltig und vermutlich stark auf die musikalische Praxis in den Nürnberger Kirchen zu seiner Zeit bezogen, wo man den Vokalisten und Instrumentalisten offensichtlich einiges abverlangen durfte. Keineswegs sind die einzelnen Motetten als reine Vokalwerke anzusehen. Sie sind vielmehr gedacht als Kompositionen, deren Stimmen sowohl vokaliter als auch instru- mentaliter besetzt werden können, wie es am Anfang des 17. Jahrhunderts üblich war. Stimmen in extremer Lage waren sogar als reine Instrumentalstimmen (Zink, Violine, Posaune, Violon) gedacht, auch wenn sie nicht als solche bezeichnet wurden und im Druck sogar textiert sind.
Einige Motetten, die teilweise sehr hoch (oder tief) gesetzt sind, könnten zwar durch Transponieren bequemer aufführbar gemacht werden. Davon wurde hier jedoch
zunächst Abstand genommen, um nicht von vornherein die Möglichkeit auszuschließen, den Werken durch geschickte Besetzung (vokal und instrumental) besondere klangliche Reize zu entlocken. In der
vorliegenden Ausgabe wurde bei jedem einzelnen Stück die originale Beschlüsselung angegeben. Sie soll einen groben Hinweis geben, welche Besetzung der verschiedenen Stimmen denkbar oder
naheliegend ist (z.B. G2 = Violinschlüssel = Instrument in hoher Lage / C1 = Sopranschlüssel = Sopranstimme in üblicher Lage usw.). Es wird damit den Ausführenden überlassen, über die Besetzung
der verschiedenen Motetten im Einzelfall zu entscheiden.