Kindermann: Canzoni & Sonatae


Canzonen, Sonaten, "Ruggiero", "Giardino Corrupto" für eine bzw. zwei Violinen und Basso continuo

 

Während 1634 in Nürnberg eine furchtbare Pestkatastrophe wütete, ermöglichte es der Rat der Stadt Nürnberg dem 18-jährigen Organisten Johann Erasmus Kindermann eine Studienreise nach Italien zu machen, um sich an „frembdem Orth“ weiterzubilden. Dieser Aufenthalt sollte ursprünglich ein Jahr dauern, er musste jedoch abgekürzt werden, weil in Nürnberg die Organistenstelle an der Egidienkirche zu besetzen war. Auch wenn die näheren Umstände bezüglich Kindermanns Italienaufenthalt unbekannt sind, belegen doch seine Werke, dass er sich intensiv mit der „neuen“ Musik, die in der „Musikhauptstadt“ Venedig und an anderen Orten gepflegt wurde, auseinandergesetzt hat. Das zeigt sich vor allem in seiner Instrumentalmusik, in der die Werke Girolamo Frescobaldis und der „Stylus phantasticus“ als Vorbilder unschwer zu erkennen sind. 

 

Kindermann veröffentlichte im Jahr 1653 unter dem Titel „Canzoni - Sonatae“ eine zweiteilige Sammlung von Instrumentalwerken für eine, zwei, drei und vier „Violis“ und Generalbass in der Form von vermutlich zehn Stimmbüchern. Leider sind heute nur noch sechs davon in der Stadtbücherei Nürnberg vorhanden, vom 1. Teil die Stimmen für Violine I und II sowie das Generalbassheft und vom 2. Teil die Hefte für Violine I, „Violon“ und Generalbass, wobei die beiden letztgenannten bis auf die Bezifferung praktisch identisch sind. Diese Quellenlage ermöglichte es immerhin, fünf „Sonaten“ für eine Violine und Generalbass sowie zehn weitere Stücke für zwei Violinen und Generalbass (Sonaten, Canzonen, „Ruggiero“ und „Giardino Corrupto“) für Hausmusik und Konzert wieder verfügbar zu machen. Die vorliegende Ausgabe folgt dabei nicht der von Kindermann getroffenen Einteilung in „Pars prior“ und „Pars posterior“. Aus praktischen Gründen wurden hier die Sonaten für eine Violine und die Stücke für zwei Violinen aus beiden Teilen in jeweils einem Heft zusammengefasst.

 

 

In Kindermanns „Sonatae“ für eine Violine und Generalbass ist zwar von der Anlage her das italienische Vorbild (v.a. Frescobaldi) nicht zu übersehen. Jedoch ist der Komponist weit davon entfernt, einem Schematismus zu huldigen. Jede der Sonaten hat ein markantes Profil, gespickt mit reizvollen musikalischen Einfällen. Die Binnengliederung der einzelnen Stücke ist meist durch Wechsel zwischen geradem und ungeradem Takt und wechselnde Tempobezeichnungen gekennzeichnet, wobei letztere eher zurückhaltend und nicht immer konsequent in allen Stimmbüchern gesetzt sind.

 

Einige Stücke sind in „Scordatura“ notiert, d.h. einzelne Saiten der Violine werden anders als gewöhnlich gestimmt, die notierten Töne werden jedoch so gegriffen, als ob die Violine normal gestimmt wäre. Außer auf der obersten Saite werden alle Töne nur in der 1. Lage gespielt. Leere Saiten sind, wo es möglich ist, unbedingt zu verwenden. Diese Form des Experimentierens mit der Stimmung eines Instrumentes wurde im 17. Jahrhundert häufiger praktiziert. Auch wenn im vorliegenden Fall die vom Komponisten vorgesehene „Violinverstimmung“ spieltechnisch keine Vorteile bietet und empfindlichen Violinen nicht unbedingt zuträglich sein dürfte, so bringt sie doch einen interessanten klanglichen Reiz und zeugt zweifellos von der Experimentierfreude des Komponisten. Humor und kompositorische Artistik wollte Kindermann mit Sicherheit mit seiner "'Sonata vice versa" (Nr. IX) beweisen: Erste und zweite Violine spielen gleichzeitig die gleiche Stimme, wobei die erste von vorne nach hinten spielt, die zweite in umgekehrter Richtung. Ein musikalischer Scherz ähnlicher Art ist die Sonata "Giardino Corrupto" (Nr. X), gewissermaßen ein musikalischer Irrgarten, deren besonderer Reiz in der Notation liegt (siehe S. 50 und 51). Während die Violine I das Stück wie allgemein üblich oben links beginnend spielt, steigt die Violine II links unten auf der zweiten Seite in den "Giardino Corrupto" ein, arbeitet sich im Notentext (der Nummerierung folgend) von Takt zu Takt nach oben bis in die erste Zeile, folgt dann der ersten Zeile von links nach rechts und steigt dann taktweise von Zeile zu Zeile wieder abwärts. Wieder auf der untersten Zeile angekommen schreitet die Stimme dann von rechts nach links bis an den linken Rand der ersten Seite, um in gleicher Weise auch dieses "Gärtchen" zu durchschreiten.

 

Kindermann beweist in seinen „Canzoni“ und „Sonatae“ nicht nur großen musikalischen Einfallsreichtum und Originalität, sondern durchaus auch kompositorische Kühnheit und nicht zuletzt einen verschmitzten Humor.